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Endlich. Es kommt zum Kuss zwischen Henri und Henriette. Im Prinzip geht es doch in diesem Film um nichts anderes als um diesen Kuss. Er wird zur Metapher einer unerfüllten Liebe, die nur einen schönen Sommertag andauerte. Danach folgt die Tristesse. Im Alltag gibt es keinen Platz mehr für große Gefühle. Auch wenn dieser Kuss mir beim ersten Sehen des Filmes wie eine halbe Vergewaltigung erschien, weil Henriette sich so heftig dagegen sträubte, so wirkt er in dieser Minute (betrachtet man sie losgelöst vom Kontext) völlig anders. So sträubt sich Henriette zwar auch noch kurz gegen Henri. Allerdings erinnert dieses Verhalten eher an das spielerische Tänzeln einer Balletttänzerin, die ihre Tugendhaftigkeit beweisen will und damit ihr Gegenüber noch umso mehr herausfordert. Vielleicht will Henriette auch diesen Kuss wirklich nicht. Möglicherweise denkt sie an ihr zukünftiges harmloses Leben mit Anatole, das ihr schon vor Beginn langweilig erscheint, aber das sie nicht verraten will. Verrät sie es mit diesem Kuss? Jede vernünftige Überlegung ist aber innerhalb von Sekunden verschwunden. Henriette legt Henri ihre Arme um den Hals und sie küssen sich lange und leidenschaftlich. Danach guckt Henriette mit großen Augen in die Kamera. Weint sie? Was denkt sie in diesem Moment? Schön, dass ich Henri geküsst habe, aber was ist mit Anatole? Oder hat sie Angst davor Henri zu verlieren und wieder in ihr tristes Pariserleben zurückzukehren? Oder ist ihr Leben in Paris gar nicht trist und sie denkt sich, warum habe ich nur zugelassen, dass dieser blöde Depp vom Lande mich küsst? Wie sie danach so traurig ins Gras sinkt und sich von Henri abwendet und dieser dann auch von ihr, enttäuscht von ihrer abweisenden Reaktion, wird ziemlich schnell deutlich, dass diese Liebe keinen Bestand hat. Jetzt kommt es zu diesen ganzen Fragen über die Liebe. Kann man das, was zwischen Henri und Henriette war, überhaupt Liebe nennen oder erfordert wahre Liebe nicht, dass man den anderen mindestens zehntausend Mal beim Zähneputzen zugesehen hat? Oder wäre das dann schon wieder Langeweile, der man entfliehen will? Zum Beispiel, indem man an einem wunderschönen Sommertag fremde Jungs küsst? Wenn das wirklich Liebe ist zwischen Henri und Henriette, warum überdauert sie dann nicht? Warum muss Henriette diesen merkwürdigen Anatole heiraten, der schon mit zwanzig so wirkt, als hätte in ihn der Blitz eingeschlagen? Wird Henriette ihr Leben lang an Henri denken? Oder hat sie ihn schon wieder vergessen, sobald sie die Stadttore von Paris passiert? Und was ist mit Henri? Küsst er jedes Wochenende irgendwelche mehr oder weniger hübsche Pariserinnen, die der Langeweile des Großstadtlebens durch einen Landausflug zu entfliehen hoffen? Vielleicht liegt die Stärke dieses Films gerade darin, dass er diese ganzen Fragen über die Liebe aufwirft und irgendwie nicht richtig beantworten will. Wahrscheinlich gibt es auf diese Fragen auch keine objektiv-allgemeingültigen Antworten, sondern nur subjektive. Nach dem kathartischen Element des Kusses, folgt eine Reihe von Landschaftsaufnahmen. Möglicherweise soll hiermit dem Betrachter Zeit dafür gegeben werden über seine eigenen Emotionen und Einstellungen zu diesen Emotionen zu reflektieren. Während ich mir den Film ansehe, regnet es draußen in Strömen. Und zwar so laut, dass ich statt der Hintergrundmusik nur noch Regen höre. Und das ist ein echter Glücksfall! Durch den Regen wirkt das alles noch viel dramatischer. Es bekommt alles so eine Weltuntergangsstimmung. Das Gras, das sich immer
schneller im Wind bewegt, das Uferschilf, der dahinrauschende Fluss,
die Wolken, die sich immer mehr verdunkeln, die hohen Bäume,
die sich ahnungsvoll im Wind wiegen. All dies kulminiert in einem
Wolkenbruch. Der Regen prasselt auf die Erde. Und der schöne
Sommertag muss einem scheußlichen Regentag weichen.
Vielleicht signalisiert dieser Wechsel auch den Wendepunkt in
Henriettes Leben. Statt eines sorglosen und glücklichen Lebens
mit Henri muss sie nun zurück in ihr Leben mit Anatole.
Möglicherweise wird sie ihr ganzes langweiliges Leben daran
denken, dass sie einen Fehler gemacht hat an diesem
wunderschönen Sommertag. Vielleicht wäre ihr Leben
glücklicher verlaufen, wenn sie um ihre Liebe
gekämpft hätte und nicht das scheinbar
Vernünftigere gewählt hätte? Was ist
stärker, Emotion oder Vernunft? Und was ist die Liebe
überhaupt? Ist sie nicht mehr als eine Emotion?
Möglicherweise eine Emotion, die mit der Vernunft
verknüpft ist, weil sie uns dazu verleitet das für
uns Zweckmäßige zu tun? Aber ist es
vernünftig immer der Liebe zu folgen? Möglicherweise
wäre Henriettes Leben mit Henri irgendwann genauso langweilig
gewesen wie das mit Anatole. Und so hat sie in ihrem Leben wenigstens
noch diesen einen Sommertag, an den sie glücklich
zurückdenken kann. Und bei dem sie sich vorstellen kann, dass
möglicherweise alles in ihrem Leben hätte anders
verlaufen können.
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