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Minute 27
Eine „Bootspartie“


Claudia Fischer

Die 27. Minute des Films zeigt den Beginn des Bootsausflugs der beiden Landstreicher Rodolphe und Henri mit den beiden Pariser Großstadtdamen Mutter Mme. Dufour und Tochter Henriette. Schon in der Kleidung spiegelt sich ihr Standesunterschied wider. Henriette und Mme. Dufour sind eher unbeweglich in ihren großen, wallenden Kleidern in der unberührten Natur. Die beiden Ruderer jedoch wirken in ihren kurzen Shirts und Hosen „fast nackt,“ wie Mme. Dufour feststellt. Generell geht es in dieser Szene um das Wetteifern Rodolphes und Henris um die beiden Damen.

Auf den ersten Blick sehen wir in einer Totalen die Natur, Rodolphe und Mme. Dufour, die wie zwei verliebte Teenager herumtollen, sich bei der Hand nehmen und miteinander flirten. Sie lachen, scherzen und Mme. Dufour spielt verlegen mit ihrem Sonnenschirm. Beide freuen sich auf einen gemeinsamen Bootsausflug. Bereits an dieser Stelle ist Rodolphes rasche Gesinnungsänderung zu erkennen. Zuvor hatte er noch mit Henriette geliebäugelt und wollte sie für sich gewinnen. Schnell findet er sich damit ab, „nur“ die Mutter zum Ausflug auszuführen. Er hat sogar Gefallen daran gefunden. Rodolphe entschuldigt sich für einen Moment und läuft rasch links aus dem Bild, um im nächsten Bild rechts wieder einzutreten. Mme. Dufour bleibt zurück und läuft in Richtung Ufer.

In der zweiten Einstellung sehen wir links im Bild Henri sitzen, der die Leine des Bootes löst und es so für die Fahrt bereit macht. Die Kamera ist statisch und Beobachter der Szene. Mit dem Ins-Bild-kommen von Rodolphe wird die rechte leere Seite des Bildes ausgefüllt. Rodolphe geht auf Henri zu, um über die Aufteilung der Damen zu beratschlagen. Dazu beugt  er sein rechtes Knie und stützt sich mit dem rechten Arm darauf ab, um auf gleicher Höhe mit Henri zu sein. Sein linkes Bein streckt er von sich; es bildet eine Diagonale, welche in die rechte untere Bildecke mündet und damit eine stimmige Bildkomposition bildet.

Henri wirkt für mich in dieser Szene Rodolphe leicht unterlegen. Ich als Betrachter habe das Gefühl, dass Henri an den Pfosten gedrängt wird und keine Ausweichmöglichkeit mehr hat. Rodolphe baut sich vor ihm auf, womit das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden thematisiert wird. Henri bleibt dennoch gelassen und „gewinnt“ souverän die Dame seiner Wahl. Rodolphe ist überraschend schnell dabei, Mme. Dufour zu übernehmen, was sich bereits in der vorangegangenen Szene angekündigt hat. Damit zeichnet sich Rodolphe als wahrer Prachtkerl aus, wie es in der englischen Übersetzung bezeichnet wird.

Alles hat sich wie von selbst im Sinne einer natürlichen Auslese arrangiert. Zwei passende Charaktere haben sich jeweils zusammen gefunden. Die Kulisse dieser Szene hat eine malerische Wirkung, das Wasser glänzt in der Sonne und eine warme Atmosphäre wird vermittelt.

Es folgt die längste Einstellung meiner Minute. In dieser Szene sehen wir Mme. Dufour bereits wartend am Bootssteg stehen. Voller Erwartung schaut sie lächelnd aus dem Bild heraus und blickt zu ihrem Ruderer Rodolphe, der nach der Besprechung mit Henri herbeigeeilt kommt. Aufmerksam hilft er ihr mit ihrem engen Kleid in das Boot, bevor er selbst  hinein steigt. Der Dialog zwischen beiden spiegelt ihre Ausgelassenheit und ihren kokettierenden Umgang miteinander wider. Ihr Schäkern ist nicht zu übersehen; es findet seinen Höhepunkt in dem Vergleich mit einem Liebespaar.

Nach etwa der Hälfte der Szene sehen wir von rechts das Boot mit Henriette und Henri ins Bild gleiten, die bereits ihre Fahrt begonnen haben. Ihr Boot bewegt sich schräg von rechts nach links; Mme. Dufour und Rodolphe verlassen etwas später von links unten nach rechts oben das Bild. Dieser Aufbau wirkt sehr dynamisch.

Noch sprechen Henriette und Henri nicht; dies wird sich in der nächsten Szene jedoch ändern. Kleine Gesten verraten bereits an dieser Stelle ihre  Zuneigung füreinander: Henriette lässt ihr Haar sanft über ihre rechte Schulter fallen. Es besteht eine Harmonie zwischen beiden, was durch das sanfte Gleiten des Bootes im Wasser noch unterstrichen wird. Mme. Dufour  und Rodolphe hingegen scherzen laut und unbefangen. Mit einem herzhaften Schrei von Mme. Dufour, nachdem Rodolphe dem Boot Schwung durch ein leichtes Abstoßen am Pfosten verleiht, endet diese Szene und wir finden uns in der vierten Einstellung bei Henri und Henriette wieder.

Die Stimmung zwischen beiden kontrastiert das Verhältnis zwischen Mme. Dufour und Rodolphe. Während Mme. Dufour und Rodolphe mit der Liebe spielen, finden Henri und Henriette im Film die wahre Liebe. In dieser Szene wirken sie einerseits distanziert, andererseits wird die Spannung zwischen beiden spürbar. Das Boot, welches sich diagonal von links unten bis rechts oben im Bild erstreckt, bildet eine harmonische Bildkomposition. Eine angenehme Atmosphäre liegt in der Luft. Henriette genießt die Augenblicke mit Henri; sie schaut verlegen nach unten, antwortet freundlich und dreht ihren Kopf leicht in Henris Richtung.

Henri stellt ihr Fragen zu ihrem Leben in Paris, womit er sein Interesse an ihr bekundet. Mit seinen Worten tastet er sich langsam an sie heran. Henriette empfindet ebenfalls große Zuneigung zu ihrem Verehrer, was sich in ihrer  Körpersprache und ihrem zaghaften und vorsichtigem Antworten bemerkbar macht. Kurze Momente, welche die Zeit anhalten lassen.   Mir wird neben der Schönheit des Augenblicks auch die Traurigkeit und Verlorenheit dieser Liebe bewusst, welche nicht sein darf. Die Erinnerung an sie muss für den Rest des Lebens reichen.

Die 27. Minute macht den Unterschied zwischen den beiden Charakteren Mme. Dufour und Henriette besonders deutlich. Die Mutter gibt sich ohne Zögern Rodolphe hin und genießt ein sorgenfreies Liebesabenteuer. Henriette ist jedoch eher zurückhaltend und schüchtern und kämpft mit ihren Gefühlen. Unerfahrenheit trifft hier auf langjährige Lebenserfahrung. Daraus ergeben sich die zwei verschiedenen Weisen des Wetteiferns beim Bootsausflug. Mme. Dufour und Rodolphe sind viel offensiver als Henriette und Henri. Dies wird bereits in den Gesprächen die sie miteinander führen deutlich. Mme. Dufour stellt sich insgesamt als sehr anstrengende Person heraus. Sie erfüllt jegliche Klischees einer vornehmen „schnatternden“ Dame. Rodolphe ist meiner Meinung nach nicht zu beneiden, aber er meistert seine Situation souverän.

Die Bildgestaltung in dieser Minute verleiht dem Film eine intensive impressionistische Kraft. Diese Art von Bildkomposition erinnert mich stark an die Bilder von Pierre-Auguste Renoir, dem Vater von Jean Renoir. Fast wie eine Studie eines seiner Bilder erscheint die harmonische Fahrt auf dem Fluss.

Pierre-Auguste Renoir "Die Seine bei Asnières (La Yole)"

Mich beeindruckt an der 27. Minute des Films „Une partie de campagne,“  dass sie in so kurzer Zeit die Charaktere von vier verschiedenen Persönlichkeiten aufzeigt. In nur wenigen Einstellungen zeichnet sich der Kern des Films ab. Für mich war es eine besondere Erfahrung, mich so intensiv mit einer Minute eines Films auseinanderzusetzen und aus so einer kurzen Zeit so viel zu entnehmen.