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Minutentexte Partie de Campagne  Übersicht  Start  Impressum



Minutentexte
Partie de Campagne





Ralph Eue

Im Sommersemester 2007 widmeten sich 40 Studierende des Fachbereichs Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der UdK-Berlin der genauen Lektüre eines kurzen Films, den Jean Renoir im Sommer 1936 gedreht und den die Cutterin Marguerite Houllé-Renoir 1943 fertig gestellt hat: Une Partie de campagne.

Worauf sich die TeilnehmerInnen im Rahmen dieses Seminars einlassen sollten, war im kommentierten Vorlesungsverzeichnis so beschrieben:

„An diesem Film erproben wir eine Methode, die man 'lyrosophisch' nennen könnte und die noch ohne 'wissenschaftliches Zertifikat' ist: Unter den Teilnehmern wird jeweils eine Minute des genannten Filmes ausgelost. Diese so 'gewonnene' Minute darzustellen soll Gegenstand des Seminars sein.

Was meint 'Darstellen'? Es kann sein: analytisches Eindringen oder akribisches Nachzeichnen; vielleicht auch vorsichtiges Umkreisen oder forsche Paraphrase. Die inspirierte Verdichtung ist eben so möglich wie ... oder ... ?

Was geleistet werden soll: (1) den Film zu SEHEN, (2) auf ihn HÖREN, (3) darüber die EIGENEN Worte finden, (4) im Prozess des Aufschreibens dieser Worte das EINFACHE, das SCHWER zu machen ist erledigen. Dabei im Sinn behalten: "Das Gesagte (oder Geschriebene) kommt vom Gesehenen". Dieses Diktum ist von Jean-Luc Godard.

Die Methode der Minutentexte wurde erstmals im vergangen Jahr anhand des einzigen Filmes von Charles Laughton The Night of The Hunter in einem von Volker Pantenburg und Michael Baute herausgegeben Buch praktiziert und vorgestellt: 93 Autoren haben in Texten von jeweils anderthalb bis 6 Seiten über eine Minute von The Night of The Hunter, die sie über Losverfahren zugeteilt bekamen, geschrieben.“

Ich kann’s nur Begeisterung nennen, wenn ich den Eindruck beschreiben sollte, unter dem ich stand, als ich erstmals dem Buch Minutentexte – The Night of the Hunter begegnete. Es reanimierte vieles, was mich über lange Jahre begleitet hatte; Gedanken oder „Stellen“, die irgendwo links oder rechts des Wegs aufgetaucht waren, irgendwie für den Zettelkasten hingekritzelt wurden, aber im Rückspiegel dessen, was sich irgendwann als „Laufbahn“ herausgestellt hatte, sich in einer unerreichbaren Entfernung zu verflüchtigen drohten. Diese frische Begeisterung wiederum erinnerte mich an ein Filmseminar, das ich im Sommer 1980, neu in Berlin, als Gast an der dffb bei Helmut Färber besuchte und welches mir vermutlich erstmals das Gefühl gab, dass man sich einem Film immer weiter nähern konnte, ohne dass er irgendwann erledigt sein würde. Flankiert wurde diese Erfahrung durch ein anderes Seminar, ebenfalls an der dffb, ebenfalls als Gast wahrgenommen, das Peter Nau leitete und „Die Kunst des Filmesehens“ hieß. Im Juli 1980 gab’s dazu ein Heft der Filmkritik, und da hieß es: „Anderes als Diskussion, wo es darum geht, zu überzeugen, recht zu behalten und zu bekommen, ein Wissen zu haben und unter Beweis zu stellen, ist das Gespräch. In ihm ist das Sprechen – aus Schweigen erwachsend, in Schweigen einmündend – sich seiner selbst bewusst. Das Sprechen ist sich bewusst, dass es – so wie ein Film sich im Gesehen- und Gehörtwerden realisiert – seine Wirklichkeit in dem hat, der zuhört. Gemeinsamkeit, Verbindlichkeit und gegenseitige Achtung bilden die emotionale Basis eines Produktionszusammenhangs, in dem sich Sprechen ereignet. Individuelle Abgrenzung, Unverbindlichkeit und gegenseitige Ausschaltung gehören zur Diskussion über Film als der akademischen Variante eines folgenlosen Konsums.“

Die Erfahrungen dieser Zeit waren sehr von Nutzen gewesen und sollten wieder aufzurufen sein.

Une partie de campagne erschien mir immer als ein Film, der fast dazu aufforderte den Standpunkt zu verrücken, weil er ja selber, ganz und gar, aus solchen Verrückungen besteht. Nur wohin verrücken? Über das Buch der Minutentexte eröffnete sich eine mögliche Richtung: vielleicht erst einmal nur aus dem Feld der Semantik hinaus. Dann wird man schon weitersehen. Das Ganze ein Versuch. Ein Essay. Vielleicht im Sinne von Alain Bergala: „Löst man einen Teil aus dem Erzählfluss und der visuellen Gewöhnung an den Film, macht man ihn von neuem sichtbar“. (Alain Bergala, Kino als Kunst, S. 86) Wobei hier zu ergänzen ist, dass die Methode der Minutentexte weiter geht, als Bergalas Pädagogik des Fragments, die auf die Einstellung oder die Szene, also filmische Größen, abhebt. Einen Film, und speziell Une partie de campagne, in Minutenabschnitten, also unfilmischen Größen, zum Lesen zu geben bedeutet einen bewusst anamorphotischen Blick auf das Geschehen zu richten. Das Ganze ist / war natürlich eine Versuchsanordnung, bei der sich nicht absolut reine Laborbedingungen herstellen lassen / ließen. Da es im Seminar auch darum ging, der Stimme ihren Platz gegen die Macht der Sprache (Helmut Färber) zu geben, wurden die entstandenen Texte zu den einzelnen Minuten nach und nach in den Sitzungen vorgetragen, um sie darüber für alle zugänglich zu machen, so entstand bei manchen SeminarteilnehmerInnen das Gefühl sie wüssten irgendwann, wie es geht – eine Illusion, die sicher zu gewissen Trübungen geführt hat. (Zu reduzieren wäre dieser Effekt vielleicht, wenn man den Abgabetermin für die Texte einheitlich festlegen würde.)

In einer Hausarbeit (geschrieben von Gabriel Yoran), die in diesem Seminar entstand und worin die gewählte Vorgehensweise zu Susan Sontags Essay Gegen Interpretation ins Verhältnis gesetzt wurde, fand sich auch genau dieser Einwand: „Die Studenten trugen einander ihre bereits geschriebenen Texte vor, so dass Autoren späterer Minutentexte zwangsläufig durch die vorangegangenen Lesarten des Films beeinflusst wurden.“ Als Fazit seiner Untersuchung der ‚Methode‘ der Minutentexte im Zusammenhang von Sontags Ablehnung sowohl alter wie moderner Interpretationsstrategien, also solcher die entweder um die Errichtung eines allegorischen Überbaus bzw. das Ausgraben versteckten Sinns von Kunstwerken bemüht sind, führt Yoran aus: „Wenn Sontag von Überbau und Ausgrabung als Techniken der beiden beschriebenen Interpretationsmethoden spricht, dann liegt dieser Metapher die Vorstellung vom Kunstwerk als einem Gebäude zugrunde. Demjenigen, der sich mit offenen Sinnen der Erfahrung eines Kunstwerks aussetzt und um Vermittlung dieser Erfahrung bemüht ist, würde es obliegen, um im Bild zu bleiben, die Aufgabe eines Führers durch dieses Gebäude zu übernehmen. Er ist nicht sein Architekt, nicht sein Archäologe, schon gar nicht sein Sprengmeister. Seine Aufgabe soll sein, aufmerksam zu machen auf die Qualitäten des (Bau-)werks, die Sinne der Besucher zu schärfen. Dabei wird er sich notgedrungen auf Details beschränken müssen. Es konnte gezeigt werden, dass die Methode der Minutentexte in seiner Anwendung auf Une partie de campagne geeignet ist, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Details zu lenken und so Respekt vor dem Kunstwerk einzuüben. Auf Basis dieser Achtung gegenüber dem Werk entstehen mit den Minutentexten durchaus Miniaturen, die die Zuhörer zu ebensolcher Sorgfalt bei der Wahrnehmung des Kunstwerks anstacheln, wie sie der Interpret, der hier allerdings nicht mehr Interpret wäre und auch nicht mehr so genannt werden könnte (aber wie sonst?), auf die Entwicklung seines Textes verwendet hat. Diese Einübung eines ‚sinnenfrohen‘ Umgangs mit Kunstwerken ist eindeutig im Sinne Sontags.“

„Das Gesagte kommt vom Gesehenen“, dieser Satz Godards ist nur die Schlusspointe, eines längeren Gedankens gewesen, der so ging: „Ich weiß, dass das, was ich von einem Film sage, von diesem Film kommt. Ich bin wie ein Arzt, der von einem Kranken redet. Die Krankheit kommt vom Kranken, und das, was ich darüber sage, kommt auch vom Kranken, und nicht in erster Linie von mir. Natürlich gibt es etwas, das von mir kommt, und die beiden bewegen sich dann gemeinsam auf eine Heilung. Es ist dasselbe bei einem Film, einem Gemälde oder einem Buch. Man muss zuerst sehen, was der Film, das Gemälde, das Buch sagt, um dann zu sehen, was man selber sagen darüber sagen könnte.“

Das Seminar sollte sich nicht als Übung in Sachen Filmkritik erweisen, sondern die Filterfunktion des Betrachters in den Blick rücken und sie trainieren; um eine Balance des eigenen Sprechens zwischen Willkür und Beliebigkeit auszubilden. Das erste riskierend, das zweite vermeidend. Auf welcher Ebene begegnet man Filmen: spricht man von oben herab oder drunter her oder dran vorbei, oder wenn all das nicht, wie trifft man sie? Noch einmal Godard: „man sollte idealerweise von einem Film reden, so wie man von etwas kommt. Nie über.“ Vielleicht könnte man auch den Versuch des Besprechens unternehmen. So wie man Warzen bespricht. Wenn solches Besprechen in Demut erlernt (oder trainiert) wurde, lösen sich Warzen. Manchmal.

Im Folgenden ist Une partie de campagne minutenweise besprochen.


Ralph Eue ist Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin.