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Minute 31
Das Drama nimmt seinen Lauf.


Susan Tröger

Die Minute widmet sich unseren beiden Liebespärchen, oder sagen wir besser Pärchen. Oder vielleicht noch besser einem Liebespärchen und einem Triebespärchen.

Zur linken Seite das Triebespärchen. Mme. Dufour und Rodolphe fliegen übers Wasser. Ganz schön rasant für eine gemütliche Bootsfahrt. Es scheint Rodolphe nicht schnell genug gehen zu können, sich von den beiden anderen abzusetzen. Das breite Grinsen im Gesicht bestätigt das: Da sucht jemand die einsamere Zweisamkeit. Doch wer will es ihm schon verdenken. Mme. Dufour scheint dem ja auch nicht abgeneigt, ganz im Gegenteil. Sie findet sowieso alles toll und aufregend. „Ich habe überhaupt keine Angst“, Rodolphe „ist so geschickt“ und „ich höre erst auf, wenn ich muss“, quäkt sie ihrer Tochter entgegen, bärzt dabei die wohlgeschnürte Brust und richtet kokett ihr Haar. Ein wenig peinlich mag man es ja schon finden, wie sie sich in die Arme von scheinbar jedem stürzt, der ihr nur einen Funken Aufmerksamkeit schenkt. Der Pariser Bourgeoisie hätte man ein bisschen mehr Würde zugetraut, aber darum geht es ja wohl auch. Ausbrechen aus dem saturierten Leben, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Noch einmal den süßen Geschmack der Jugend schmecken dürfen. Wirklich stören tut das im Grunde keinen. Wirklich interessieren auch nicht. Viel zu eindeutig ist die Folgenlosigkeit dieser Begegnung, die Unwichtigkeit dieses Spiels, die Unwahrhaftigkeit dieser Beziehung. Und so ist man froh, dass man den Rest der Minute mit dem zweiten Pärchen verweilen darf: dem Liebespärchen.

Bedächtig still geht es auf dem Boot von Henri und Henriette zu. Aber nicht wie zwischen zwei Fremden, die sich nichts zu sagen haben, sondern wie zwischen zweien, die sich zu viel zu sagen haben und nicht wissen, wo sie beginnen sollen. Denn hier geht es nicht um banale Oberflächlichkeiten und platte Koketterie. Wir haben zwei Romantiker vor uns, die sich mehr vom Leben und der Liebe erhoffen, als das, was sie von ihren Eltern vorgelebt bekommen. Da ist man natürlich zunächst sprachlos, wenn man jemandem begegnet, der diesen Wunsch zu teilen scheint. Wenn die Hoffnung erwächst, dieser andere könnte vielleicht, ja ganz vielleicht derjenige eine sein, der einem dieses Mehr geben kann. Und ich hoffe mit den beiden. Ich will glauben, dass ich zwei Menschen vor mir habe, die füreinander bestimmt sind. Also glaube ich es. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil ich weiß, dass die Realität eine andere sein wird.

Doch noch sitzen beide im Boot und schweigen bedächtig. Die dramatische Stille wird durch Vogelgezwitscher zerrissen. „Es ist eine Nachtigall,“ verrät Henri der faszinierten Henriette. O nein. Ausgerechnet die Nachtigall, denke ich mir. Aus allen möglichen Vögeln, die im Wald herumzwitschern: die Nachtigall. Wär’s ein Kuckuck gewesen oder meinetwegen eine Amsel, so hätte es für Henri und Henriette vielleicht eine Chance gegeben. Die Nachtigall jedoch besiegelt ihr Schicksal. „Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche,“ sagte Shakespeares Julia zu ihrem Romeo, um ihn am Fortgehen zu hindern. Wie das ausging, weiß man ja. Man könnte argumentieren, Renoir führe die Nachtigall hier als Bote des Frühlings an, als der sie in vielen Kulturen gilt. Das mag wahr sein, aber nicht nur. Die dramatischste Liebesgeschichte der Literaturgeschichte schwingt für mich auf jeden Fall auch mit und je länger ich darüber nachdenke, desto gravierender werden die Parallelen. Auch wenn wir es bei der Partie de Campagne nicht mit zwei verfeindeten Familien zu tun haben und auch wenn das Ende nicht durch den Tod besiegelt wird, in den Grundsätzen ähneln sich die Paare doch. Henriette, die Großstädterin aus gutbürgerlichen Kreisen, gebildet und wohlerzogen. Daneben der einfache Fischer vom Lande. Die beiden verfeindeten Familien aus Romeo & Julia entsprechen hier zwei Familien verschieden in Herkunft und Stand. Ein Unterschied, der genauso unüberwindbar sein kann wie verhasste Eltern. Hinzu kommt, dass Henriette, genau wie Julia, einem anderen versprochen ist, einem Hans-guck-in-die-Luft, der es wohl kaum vermag, in die Untiefen ihrer Seele und ihres Herzens vorzudringen. So handelt es sich also auch bei Henri und Henriette um ein unsternbedrohtes Liebespaar. Und auch wenn sie am Ende nicht den Freitod wählen, kommt ihr Schicksal einem Tode gleich. Henriette fügt sich der abgesprochenen Ehe und kann nicht glücklich damit werden. Henri bleibt allein zurück mit seinen Erinnerungen an die wenigen Minuten, die er mit ihr verbringen durfte.

Auch wenn wir das noch gar nicht wissen in Minute 31, dass es tragisch enden wird scheint unausweichlich. Und schuld ist nur die Nachtigall. Ich will mich nicht damit abfinden, dass meine Minute am Scheitern dieser jungen Liebe Schuld sein soll und ertappe mich dabei, wie ich einen Ausweg suche. Was, wenn Henri sich geirrt hat und es gar nicht die Nachtigall war, die da rief? Singt sie nicht ohnehin nur in der Nacht? Könnte es nicht doch eine Amsel gewesen sein? Würde es einen Unterschied machen? Meine Recherche ergibt, dass die Nachtigall durchaus auch am Tage singt in der Balzzeit. Für mich gleich zwei Indizien dafür, dass sie es tatsächlich gewesen sein kann. Aus Angst, der Verdacht könnte sich nur mehr und mehr bestätigen, erspare ich mir die Mühe, einen Nachtigallschrei vom Schrei einer Amsel oder jedes anderen Vogels unterscheiden zu wollen. Denn im Grunde will ich einfach nicht, dass es die Nachtigall ist. Ich will nicht, dass es zu Ende ist. Noch nicht. Noch nicht jetzt. Noch nicht in Minute 31. Ich will Henri unbedarft zusehen, wie er Henriette zart am Arm festhält und durch das Wäldchen führt. Wie er ihre Hand hält, als sie aus dem Boot steigen. Wie er sagt „Vorsicht“ und ihr die Äste aus dem Weg räumt. Da stört es mich auch nicht, dass sie mit ihrem Geraschel und Gerede die Nachtigall am Ende doch vertreiben werden, obwohl sie ihr ja nahe kommen und leise sein wollen. Ja, denke ich, seid laut und vertreibt sie. Es gibt sie gar nicht diese Nachtigall. Es gibt nur euch beide und die Hoffnung, dass doch noch alles gut wird – zumindest bis zur nächsten Minute.