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Minute 04



Franziska Funke

„Ach maman, dass sie immer so affektiert und laut kichern muss. Ich will auch einen Mann, mit dem ich nach zwanzig Jahren Ehe noch so albern herumschäkern kann. Da hat Papa sie wohl wieder in die Wade gezwickt und maman juchzt natürlich wie ein Backfisch! Ich nehm’ jeden, nur nicht Anatole. Er kann ja ganz nett sein, aber er ist so ungeschickt und er denkt nur an sich. Er ist kein bisschen romantisch. Aber ich glaube, Papa hält ihn für einen ganz formidablen Schwiegersohn. Und das nur, weil er schon mit im Geschäft arbeitet und er dann einen Nachfolger hätte.

Henriette, Henriette, sei nicht so gehässig, Anatole ist ein feiner Kerl auf seine Art.

Ich erwarte vielleicht zu viel? Hab ich es doch geahnt, jetzt fängt er an zu schmollen, weil er keine Angel vom Gasthaus bekommt. Na, dann hätte er sich eben eine mitbringen sollen! Machen richtige Angler ja schließlich auch. Das sieht die Bedienung, oder ist es die Tochter des Gastwirtes..., genauso. Was für schöne rosige Wangen sie hat. Das macht bestimmt die gute Landluft. Hach, ist das herrlich hier draußen! Ich könnte noch stundenlang durch die Wiesen fahren und mich von der Sonne kitzeln lassen. Wie lieblich die Vöglein singen! Wie schade, dass sie sich nie in die Stadt verirren. Oh, ich möchte am liebsten vom Karren springen und die großen, starken Bäume umarmen! Anatole verhält sich wie ein kleiner Junge: Jetzt verlangt er doch tatsächlich von Papa, dass wir woanders hinfahren. Er möchte nicht hier bleiben, weil er keine Angel bekommt, also wirklich! Für wen hält der sich? Noch sind wir nicht verheiratet! Also, der spielt sich hier auf...

Nein, ich will mich heute nicht über ihn ärgern. Würde mich auch sehr wundern, wenn maman sich freiwillig mit ihren zwanzig Röcken gleich wieder den Karren hochschwingt, in all der Hitze. Nein, Anatole hat hier gar nichts zu bestimmen! Zum Glück ist auf Papas Machtwort Verlass, maman wünscht hier zu essen, also bleiben wir. Außerdem gibt es im Hof Schaukeln, das ist viel lustiger als Angeln. Wo geht das Mädchen denn hin? Ach, die holt bestimmt den Wirt, damit Papa das Essen bestellen kann. Ein Picknick wäre fein! Unter einem Kirschbaum! Aber ich höre maman schon wegen der Ameisen jammern. Großmutter weiß glaub ich gar nicht, wo wir sind. Sie hört ja auch so schwer. Und ich bin schon ganz heiser, weil ich ihr immer so ins Ohr schreien muss.

„Und, Großmutter, gefällt es dir hier? Wir werden jetzt erst einmal schön was

 zu Mittag essen!“

            „Oh nein, nein, ich habe doch Hunger!“

Eben. Ich würde ihr ja gern aufschreiben, was ich grad gesagt habe, aber ich kann den Stift nicht finden. Na macht nichts, die Sonne blendet ohnehin so stark auf dem weißen Papier.

Hach, ich bin ganz verliebt in die Natur, wenn wir doch nur öfter herkämen!

Huch, jetzt geht das Geruckel wieder los. Papa ist natürlich ganz der Gentleman und will uns erst im Schatten absteigen lassen, ja, ist wohl auch besser für Großmutter, sonst bekommt sie noch einen Hitzschlag von der Anstrengung. Sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste. Zum Glück geht Anatole schon mit maman vor. Hat sich wohl wieder beruhigt. Der Papa, ja, das ist ein stattlicher Mann! So klug und tüchtig. Und er weiß so viel. Anatole stellt nur dumme Fragen. Wie er da so neben maman nebenherhüpft. Gar kein Vergleich zu den jungen Burschen, die da hinten so lässig in der Eingangstür zum Gasthaus lehnen. Also, was ist denn bloß los mit mir heute? Ich glaube, die reine Luft macht mich ganz übermütig. Wie lustig der Blonde ausschaut mit seinem knapp sitzenden, engen Leibchen, als hätte er gar nichts an. Oh Gott, ich habe bestimmt einen Sonnenstich, ich hätte doch das Schirmchen nehmen sollen. Ob das zwei Ruderer sind? Dann kann man hier bestimmt auch Boote leihen. Dann könnten wir doch nach dem Essen den Fluss entlang rudern. Das wäre bestimmt auch etwas für maman. Aber Papa erlaubt es sicher nicht.

All das frische grüne Gras, ich könnte jeden einzelnen Halm küssen! Ich zieh auf’s Land! Wenn Anatole mich heiraten will, muss er mir ein Haus weit weg von Paris und den stinkenden Fabrikschornsteinen schenken. Der Dunkelhhaarige steht ganz still im Türrahmen. Hey, warum lachst du denn nicht, es ist doch Sommer! Worüber sie sich wohl unterhalten? Dass die Karrenräder aber auch so quietschen müssen, lass uns doch endlich absteigen, Papa! Oh, mein Gott, das Mädchen hat aber auch gar keine Scham! Oder sie ist natürlich die Frau des Dunkelhhaarigen, warum würde sie ihm sonst wie selbstverständlich die Uhr zubinden? Sie fasst ihn einfach an. Einfach so. Hm, das Land ist eine ganz andere Welt. Reden die etwa über uns? Habe ich da gerade „Paris“ und „Damen“ gehört? Na, aufgemuntert hat den Dunklen die Berührung des Mädchens ganz sicher nicht, er schaut noch immer so mürrisch drein. Ha, jetzt bekommt er vom dicken Wirt gleich einen Eimer Wasser ins Gesicht!“

Anmerkungen:

Der Minutentext ist als ein fiktiver innerer Monolog einer der Hauptfiguren, der Unternehmerstochter Henriette, zu verstehen. Im Film selbst tritt sie in der vierten Minute nicht durchgängig und überwiegend passiv auf. Wir sehen sie in der Kutsche sitzen, wie sie ausgelassen und bewundernd den Kopf in alle Richtungen dreht und zu mögen scheint, was sie erblickt. Wir hören sie nur einmal zur neben ihr auf dem Wagen befindlichen Großmutter sprechen.

Henriette ist für mich die zentrale Figur des Filmes. Partie de Campagne  reflektiert ihren Wandel vom unberührten, unerfahrenen Mädchen mit sanftem und verspieltem Gemüt zur jungen Frau. Zärtlich schwingende Wiesenhalme, üppig belaubte Bäume und Sonnenschein spiegeln Henriettes Wesen wider, wie es zu Beginn des Filmes eingeführt wird. Wenn sie dann später mit Henri auf dem Fluss rudert und der prasselnde Regen das Flusswasser in Aufruhr versetzt, deutet das auf eine Änderung in Henriettes Gefühlslage. Zu Beginn des Filmes, also in der vierten Minute, nehmen wir sie jedoch noch als ein junges, unbeschwertes Mädchen wahr. Henriette freut sich über den Familienausflug aufs Land, genießt die Freiheit und Schönheit der Natur in vollen Zügen. Der fiktive Monolog soll einerseits nachzeichnen, was um sie herum geschieht, sie andererseits aber auch porträtieren. Ich habe die vierte Filmminute nicht isoliert betrachtet, sondern habe Ereignisse aus anderen Filmminuten in den Minutentext mit eingebunden und vielleicht auch vorweggenommen.




Franziska Funke, geboren 1979 in Ueckermünde. Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, Anglistik, Skandinavistik und Theaterwissenschaft in Berlin und Stockholm. Lebt in Berlin, London und Athen.