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Minute 09
Ausgependelt


Gabriel Yoran

Eine Schaukel ist, das lehrt die Wikipedia, ein sogenanntes getriebenes Pendel. Wird eine Schaukel aus ihrer Ruhelage ausgelenkt, schaukelt sie einige Male hin und her, bis die Reibungskräfte ihre Bewegung zum Stillstand bringen.Henri und Rodolphe sitzen am Tisch in Poulains Gastwirtschaft. Sie sprechen über den moralisch richtigen Umgang mit den Frauen. Während Rodolphe behauptet, Frauen en bloc zu verführen, ist Henri eher der romantische, versonnene Typ. Oder ein Familienmensch, wie er sagt. Das glaubt Rodolphe natürlich nicht, er unterstellt seinem Freund schlichte Angst vor Syphilis – lustigerweise in der englischen Untertitelung das gleiche Wort wie Pocken. Wenn aus jedem Abenteuer Kinder hervorgingen, wäre die Welt überbevölkert, stellt Rodolphe fest. Henri aber sieht die Gefahr, dass sich das junge Mädchen, auf das Rodolphe es abgesehen hat, in ihn verliebt.

Wenn das geschehe, dann hätte das Mädchen einfach einen guten Geschmack. Sagt Rodolphe. Henri sagt, das sei ja wohl Unsinn, Rodolphe wäre doch kein Mann, der in einer Molkerei arbeiten wollen würde. Sie haben also den Gervais-Schriftzug auf dem Pferdewagen gelesen und falsch gedeutet. Den Wagen haben die Dufours ja nur ausgeliehen.

Die Schuss-Gegenschuss-Montage, in der der Dialog zwischen den beiden abläuft, endet in Sekunde 43 mit einer merkwürdigen Totalen von Bäumen im Wind, vor denen Henriette von oben ins Bild hineingeschaukelt kommt. Diese Schaukel! Renoir und die Schaukel! Vorhin hatte er die Kamera noch auf der Schaukel, zusammen mit Henriette. Jetzt der nächste Effekt. Die Kamera steht auf dem Boden und die Schaukel wuscht ins Bild, dass es nur so eine Freude ist. Und das ist ja das gute an Effekten, dass sie so effektiv sind!

Eine Untersuchung hat ergeben, leider verschweigt die Wikipedia welche Untersuchung, dass beim Schaukeln die Blut-Hirn-Schranke durchbrochen wird und das Gehirn Botenstoffe ausschüttet. Dadurch gerät der Schaukelnde angeblich nach einiger Zeit in eine Art Trance. Das kann man bei Henriette sehen, leider nicht in Minute 9, sondern in der auf den Kopf geschaukelten Minute 6.

Also zurück ins Gasthaus, nun der Blick aus dem Fenster, flankiert von Henri und Rodolphe. Vordergrund und Hintergrund laufen jetzt parallel. Renoir wird das später, in der „Spielregel“ noch kultivieren, diese Parallelmontagen ohne Montage, so eine Art Multiebenenkadrierung. Zwei Männer vorne, zwei Frauen hinten. Zwei Männer links und rechts und zwei Frauen in der Mitte, fenstergerahmt. Zwei Männer statisch, beobachtend, zwei Frauen, eine schaukelnd, eine spazierend. Die Außenszene ist allem Anschein nach keine Rückprojektion. Es wurde anscheinend wirklich in einem Haus mit Garten gefilmt und die Schaukeln waren schon da. Vielleicht wurden sie auch extra hingestellt.

Wie dem auch sei: Beim aktiven Schaukeln muss Arbeit geleistet werden. Die schaukelnde Person erreicht dies durch eine Schwerpunktverschiebung während des Schaukelns. Nachdem sie sich durch Abstoßen am Boden in eine leichte Schwingung versetzt hat - was wir in der Landpartie niemals zu Gesicht bekommen – denn junge Damen, zumal französische, stoßen sich nicht ab, sie schaukeln einfach so, ohne plumpes Anlaufnehmen. Nachdem sie sich also in Schwingung versetzt hat, verlagert die schaukelnde Person bei jeder Viertelperiode ihr Gewicht. Beim Durchgang durch den tiefsten Punkt bewegt sie den Schwerpunkt nach oben. Sie setzt sich aufrecht und hebt die Füße. Dadurch vergrößert sie die potentielle Energie der Schaukel. An den höchsten Punkten der Schaukelbewegung senkt sie den Schwerpunkt. Sie streckt den Oberkörper horizontal und bewegt die Füße weit nach unten. Die eben gespeicherte Energie wird für die Pendelbewegung freigesetzt.

Nach etlichen dieser Pendelbewegungen springt Henriette von der Schaukel und läuft am Fenster vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde wirft sie einen Blick durch das Fenster, vielleicht auf Rodolphe, der sich halb hinaus lehnt. Möglicherweise riecht sie auch schon das Estragon-Omelett, das in wenigen Sekunden serviert werden wird. Henriettes Bewegung ist ein seitwärts schwingendes Tänzeln, fast eine Torque-Bewegung, eine Drehung um eine Achse außerhalb des Körpers. Die mag entstanden sein, weil durch die bereits berichtete Überwindung der Blut-Hirn-Schranke Glückshormone frei wurden, da kann man nicht mehr stillhalten.

Schließlich kommt der Wirt rein, ein Cameo-Auftritt Renoirs, er hat Omelett für die Gäste. Pastis haben die beiden schon getrunken. Jetzt gibt es also Ei. Von dem angekündigten Estragon-Omelett sieht man nicht viel und von dem hochgelobten Fisch, das Restaurant Poulain ist schließlich ein Fischrestaurant, keine Spur.

Eigentlich ist in meiner Minute alles drin. Männerfreundschaft, moralische Erörterungen, schöne Frauen in zwei Generationen, eine junge Frau auf der Schaukel, Pendelbewegungen, Drehbewegungen, Rauchen, Alkohol, Wasser, Molkereiprodukte (im Gespräch), Eierprodukte (zum Essen), angekündigte Fleischprodukte. Renoirs Versuche von Harmonisierung der Dichotomien sind in full effect: Die Frauen, die Männer, außen, innen, Essen, Trinken, Schwingen, Starren, Bewegen, Innehalten, vorne, hinten, oben, unten, links, rechts, Mitte. Die Bewegung der Kamera ist eine Schaukelbewegung, eine Pendelbewegung, heftig ausschlagend am Anfang, erst rechts, dann links, Schuss, Gegenschuss, dann mit sich verlangsamender Schnittfrequenz in der Mitte zwischen die beiden Männern ankommend, weniger heftige Bewegungen zwischen den Einstellungen, die Kamera kann bleiben wo sie ist und muss nur noch, als ob ein Dritter am Tisch säße, der alles mit allem versöhnen möchte, die beiden Männer beobachten, mal den einen im Halbprofil, dann den anderen im Halbprofil, das jeweilige Gegenüber nicht mehr angeschnitten. Hat sich die Kadrierung schließlich in der Mitte zwischen Rodolphe und Henri eingepegelt, wirft die Kamera einen ruhigen, statischen Blick nach draußen, wo die Bewegung aber sofort wieder aufgenommen und kurz danach schon wieder beendet wird, um in eine dritte überzugehen: Henriettes letzte Schaukelbewegungen münden in ihren kleinen Tanz über die Wiese.

Das hin und her der Argumente zwischen den beiden Männern hat sich zeitgleich mit der Kamera ausgependelt, These, Schuss, was Männer wollen, Antithese, Gegenschuss, was sich gehört, die Synthese in der Totalen kommt vorerst nicht zustande, statt dessen kommt ein Omelett, das wiederum kann man sehr französisch finden. Bei Döblin heißt es ja, nicht mit guten Vorsätzen fängt man ein Leben an, also werden sie alle für die Katz sein, die guten Vorsätze von Henri, sobald er Henriette begegnet. Insofern steht Rodolphe besser da, eine unglückliche Liebe steht ihm zumindest nicht bevor. Wer mehr liebt, muss mehr leiden. Auch das so ein Pendel.

Am Ende meiner Minute wird es noch 30 Minuten dauern, bis die gesellschaftlichen Reibungskräfte das Pendel zum Stillstand gebracht haben werden.




Gabriel Yoran ist Unternehmer und Autor in Berlin.